Zehn neue "Netzwerke zu seltenen Erkrankungen" erfassen PatientInnen und ihre Körpersubstanzen Ohne großes Aufsehen hat das Bundesforschungsministerium zehn "Netzwerke zu seltenen Erkrankungen" etabliert. Zunächst sollen möglichst viele PatientInnen und Körpersubstanzen erfasst, "Krankheitsgene" identifiziert, die Zusammenarbeit von ForscherInnen verbessert und klinische Studien angeregt werden. Verheißen werden Gentherapien und neue Medikamente - vorausgesetzt, viele Kranke machen mit. Von Klaus-Peter Görlitzer In Europa gilt eine Erkrankung definitionsgemäß als "selten", wenn sie weniger als 5 von 10.000 Menschen im Laufe ihres Lebens trifft. "Über 7.000" solcher seltenen Erkrankungen mit "mehreren Millionen Betroffenen" in Deutschland gebe es, schreibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) auf seiner Homepage - und fügt hinzu: "Ihre häufigste Ursache sind Fehler im Erbgut." Auf welchen Quellen diese als "Daten und Fakten" präsentierten Behauptungen beruhen, verrät das BMBF nicht. Fakt ist aber, dass das Ministerium "was tut": Es stellt bis 2008 insgesamt 25 Millionen Euro bereit für zehn "Netzwerke zu seltenen Erkrankungen", die mindestens drei, maximal fünf Jahre gefördert werden können. Eine "international besetzte Jury" hatte aus 56 beantragten Projekten zehn Gruppen seltener Erkrankungen ausgewählt, die allesamt genetische Ursachen haben sollen. Als erstes Netzwerk startete im Frühjahr 2003 das "MD-Net". Laut BMBF "bündelt es Kompetenzen aus ganz Deutschland" zu Muskeldystrophien (MD), deren gemeinsames Kennzeichen fortschreitende Muskelschwäche ist; betroffen seien, so Schätzungen, zwischen 26.000 und 40.000 Menschen hierzulande. "Aufgrund der ständig wachsenden Anzahl von derzeit ca. 30 verschiedenen Genorten", heißt es in der Netzwerkbeschreibung, "wird es auch für Experten zunehmend schwierig, alle Formen der MD zu unterscheiden." Ziel sei es daher, "eine umfassende molekulare Diagnostik für die derzeit bekannten Genorte" zu etablieren und außerdem "bislang unbekannte MD-Gene" zu identifizieren. Als "Servicestruktur" baut die Universität München im Rahmen des MD-Nets eine Muskelzellbank auf, in der Gewebe und Zellen von MD-PatientInnen aufbewahrt und für Studienzwecke zur Verfügung gestellt werden. "Zentrale Einheit zur Sequenzierung von Genen für neuromuskuläre Erkrankungen" ist die Uni Würzburg. Als "Koordinierungszentrum für klinische Studien bei Muskeldystrophien" fungiert die Uni Freiburg. Zweck der klinischen Studien, die kontrollierte Versuche am Menschen sind, sei die "Verbesserung der Patientenversorgung", heißt es in der MD-Net-Beschreibung. Inzwischen läuft die erste klinische Studie im Rahmen des Netzes: Münchner ForscherInnen testen an mindestens 35 PatientInnen den Wirkstoff Deflazacort, der zu den Corticosteoriden gehört. Lochmüller selbst kümmert sich im Rahmen des MD-Nets um sein persönliches Steckenpferd, das er seit Jahren beharrlich verfolgt: die Erforschung der "somatischen Gentherapie" bei Muskeldystrophie Duchenne. Allerdings ist mit molekulargenetischen Therapiemethoden, die seit Anfang der neunziger Jahre am Menschen weltweit ausprobiert werden, bisher noch niemand geheilt worden; auch die 45 Millionen Euro, die das BMBF seit 1995 in Entwicklung von Gentherapien gesteckt hat, konnten bisher keinem Patienten helfen. Ein Teilprojekt des MD-Nets widmet sich "populationsgenetischen Aspekten". Leiter ist der Würzburger Professor Tiemo Grimm, der durch seine Verwicklung in den "Eisinger Fall" bundesweit bekannt geworden war. "Die Häufigkeit von Muskeldystrophien in unserer Bevölkerung" sei, so Humangenetiker Grimm, "aus sozial- und gesundheitspolitischer Sicht von einiger Bedeutung". Mittels molekularer Diagnostik böten sich "bessere Möglichkeiten der Schätzung für die deutsche Bevölkerung"; und auch die Mutationsraten seien "von großer Bedeutung in der täglichen humangenetischen Beratung von Familien". Grimm gibt sein Wissen gern weiter, bei Workshops zum Thema "Risikoberechnung in Familien" doziert er regelmäßig vor MedizinerInnen und BiologInnen. Ähnliche Methoden und Ziele wie MD-Net verfolgen die neun weiteren "Netzwerke zu seltenen Erkrankungen", die Mitte 2003 angelaufen sind. Ob bei "angeborenen Störungen der Blutbildung", "erblichen Bewegungsstörungen" oder "genetisch bedingten Hauterkrankungen" – stets geht es zunächst darum, möglichst viele PatientInnen und Körpersubstanzen zu erfassen, das "biologische Material" molekulargenetisch zu analysieren und Betroffene zur Teilnahme an klinischen Studien zu motivieren. Die BMBF-Förderrichtlinien verlangen ausdrücklich die Einbindung von Selbsthilfeorganisationen. Im SKELNET, das erbliche Skeletterkrankungen erforscht, wird dies besonders augenfällig: Erprobt wird dort ein "kooperativer Ansatz von Selbsthilfegruppen und Fachleuten zum Verständnis und zur Versorgung von Skelettdysplasien" (Gewebsdefekte), Ansprechpartner ist der Geschäftsführer des in Bremen beheimateten Bundesverbandes Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien (BKMF), Karl-Heinz Klingebiel. Der BKMF ist auch Mitglied von Eurordis, einer in Paris ansässigen "Europäischen Organisation für Seltene Erkrankungen". Laut Selbstdarstellung handelt es sich um eine Koalition von PatientInnenverbänden, die - mittels Lobbying bei EU-Institutionen - erreichen möchte, dass die "Lebensqualität" von Menschen mit seltenen Erkrankungen verbessert wird. Aus Deutschland dabei ist auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte, die über achtzig Verbände mit mehr als 850.000 Mitgliedern repräsentiert. Eurordis sieht es als "unsere Mission" an, klinische Forschung zu promoten und die Entwicklung von Therapien und Medikamenten gegen seltene Erkrankungen zu stimulieren. Gefördert aus EU-Mitteln, startet Eurordis nun ihr größtes Projekt: die "EuroBioBank". Der Begriff meint ein Netzwerk aus Sammlungen von 150.000 Proben von Geweben, DNA und Zellkulturen. Verknüpft werden sollen zwölf Biomaterial-Banken aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Malta, Slowenien, Spanien und Ungarn. Für dieses Projekt werben soll vor allem eine spezielle Website im Internet, die derzeit aufgebaut wird. © KLAUS-PETER GÖRLITZER, 2003 Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Aut |
aus: BIOSKOP Nr. 31 (Dezember 2003)
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