Das Sonntagsblatt 14. April 1995

Wie ein Geheimbund
Welche Versuche am Menschen zulässig sind, entscheiden bisher die Ärzte nahezu allein


Von Klaus-Peter Görlitzer
Eine Schwangere, die Ärzte zur "Hirntoten" erklärt hatten, sollte ein Kind zur Welt bringen. Als "Erlanger Baby" hat der Fötus vor gut zwei Jahren die Medien beschäftigt. In Hannover wollen Neurochirurgen demnächst Gewebe abgetriebener Embryonen in die Gehirne von Parkinsonkranken übertragen. Auch dieser Plan hat wochenlang für Schlagzeilen gesorgt. Versuche am Menschen finden nicht nur in Erlangen oder Hannover statt. Sie gehören zum wissenschaftlichen Alltag in Deutschland und anderswo.

    Manche Mediziner experimentieren offenbar so routiniert, daß sie Testpersonen über mögliche Folgen im unklaren lassen. Das bezeugt zum Beispiel eine Patientin, die in den Göttinger Universitätskliniken behandelt worden war. Dort hatte eine Ärztin per Ultraschall eine Zyste am linken Eierstock gefunden und prompt zur "Totaloperation" geraten. Die Patientin war geschockt, stimmte aber einige Stunden später auch der nächsten, wie sie es empfand, "ärztlichen Anordnung" zu: Sie sollte ein Kontrastmittel in die Armvene gespritzt bekommen. Der Eingriff sei notwendig, um festzustellen, ob die Zyste gutartig oder bösartig sei.

    Die ungemein hohe Aufmerksamkeit, welche die Ärzte dieser Untersuchung beimaßen, kam der Patientin sonderbar vor. Mehrfach wurde Blut entnommen, Puls und Blutdruck gemessen und ihr Urin überprüft. Schließlich verlangte die Untersuchte, über die bereits vorgenommenen Eingriffe aufgeklärt zu werden.

    Zur Antwort erhielt sie ein zweiseitiges Schreiben. Darauf stand ganz oben groß der Name einer Pharmafirma: "SCHERING". Darunter: "Patienteninformation zur Teilnahme an der klinischen Prüfung eines Ultraschallkontrastmittels". Zudem erfuhr die Patientin, das an ihr erprobte Präparat sei "noch nicht im Handel erhältlich" sei, ein ähnlich zubereitetes Kontrastmittel aber von mehr als 2.000 Patienten "gut vertragen worden" worden. Zur weiteren Einstimmung folgte: "Sie sind als Teilnehmer, wie bei jeder klinischen Prüfung gesetzlich vorgeschrieben, gegen etwaige im Zusammenhang mit der Prüfung auftretende Gesundheitsschädigungen versichert." Und: "Die Teilnahme ist freiwillig."

    Dieser letzte Hinweis kam für die Patientin zu spät. Daß sie hätte entscheiden können, war ihr aus den Gesprächen mit den Ärzten nicht klar geworden. Kein Wunder, daß sie sich getäuscht und als Versuchskaninchen mißbraucht fühlte.

    Der fragwürdige Gesprächsstil der Mediziner in diesem Fall mag eher die Ausnahme sein - der Versuch jedoch ist typisch. Obwohl es bereits etwa 50.000 Präparate auf dem Markt gibt, sind klinische Prüfungen von Arzneimitteln die mit Abstand häufigsten Versuche, die in deutschen Krankenhäusern stattfinden. Daran nehmen je nach Testphase zwischen zehn und 2.000 Menschen teil.

    Ausprobiert werden aber auch Medizinprodukte wie Herzschrittmacher oder künstliche Gelenke. Neue Operationsmethoden und Strahlenbehandlungen kommen auf den Prüfstand. Ärzte experimentieren beim Verpflanzen von Organen und bei der sogenannten künstlichen Befruchtung. Versuchsgelände betreten Mediziner zudem mit der "somatischen Gentherapie", also der gentechnischen Manipulation menschlicher Körperzellen.

    Wie viele und welche medizinischen Versuche hierzulande überhaupt stattfinden - darüber gibt es kaum verläßliche Zahlen, geschweige denn genaue Informationen. Strikte Geheimhaltung, die von den Politikern in Bund und Ländern stillschweigend geduldet wird, schließt gesellschaftliche Einflußnahme und Kontrolle bisher weitgehend aus.

    Als einzige Richtschnur gilt in Deutschland hierfür die ärztliche Berufsordnung. Sie schreibt seit 1985 vor: Jeder Mediziner, der klinische Versuche am Menschen vornimmt oder mit persönlichen Daten von Patienten forschen will, ist verpflichtet, sich vorher von einer Ethik-Kommission beraten zu lassen. Dabei sind Nutzen und Risiken eines Forschungsvorhabens sorgfältig abzuwägen, Beratungsgrundlage ist eine Kurzbeschreibung des Projekts. Was der forschungswillige Mediziner anschließend tut, muß er allein verantworten - an das Kommissionsvotum ist er rechtlich nicht gebunden.

    Ethik-Kommissionen gibt es bei den Ärztekammern der Bundesländer, an den medizinischen Fakultäten der meisten Universitäten und an großen Krankenhäusern. Obwohl sich ihre Geschäftsordnungen unterscheiden, gleichen sie sich im wesentlichen: Rund drei Viertel der Kommissionsmitglieder sind Mediziner. Die restlichen der mal fünf, mal sieben, mal 16 zu vergebenden Plätze besetzen zumeist Juristen und Theologen. Daß eine Frau der Kommission angehört, ist die Ausnahme, und Patientenvertreter oder andere medizinische Laien sind fast nirgends erwünscht.

    In der Regel tagen die Ethik-Kommissionen alle vier bis sechs Wochen hinter verschlossenen Türen, pro Sitzung beraten sie mehrere Anträge. Alle Mitglieder haben sich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Welche Versuche am Menschen gebilligt und welche aus ethischen Gründen abgelehnt werden, wer Anträge gestellt hat und welche Pharmafirmen den Forschern neben den Steuerzahlern unter die Arme greifen - über derartige Fragen kann die Öffentlichkeit mangels Aufklärung aus erster Hand allenfalls spekulieren.

    "Die Arbeit der Ethik-Kommissionen", heißt es in der Februarausgabe der gesundheitspolitischen Zeitschrift Dr. med. Mabuse, "erinnert an Geheimbündelei." Geschrieben hat diesen Satz der Arzt Johannes Spatz, der in der bremischen Verwaltung als Referent für kommunales Gesundheitswesen arbeitet. Spatz plädiert dafür, die bisherigen Ethik-Kommissionen abzuschaffen und statt ihrer "Patientenschutzkommissionen" einzurichten. In ihnen sollten ausschließlich unabhängige Patientenvertreter sitzen, entsandt von Initiativen und Wohlfahrtsverbänden, gewählt von den Landesparlamenten. Ärzte und Juristen sollten mit ihrem Sachverstand weiterhin beratend mitwirken.

    Die Entscheidung aber, ob ein Versuch ethisch vertretbar ist oder nicht, soll nach dem Spatz-Modell allein die Patientenschutzkommission in öffentlichen Sitzungen treffen. Die Ergebnisse seien allgemeinverständlich zu veröffentlichen und etwaigen Testpersonen vorzulegen. Und: Immer wenn der forschende Arzt den Versuchsablauf erklärt und die Probanden um die Einwilligung bittet, sollte ein unabhängiger Patientenfürsprecher dabei sein.

    Diese oder ähnliche Ideen Wirklichkeit werden zu lassen, liegt nun in den Händen der Politiker. Anlaß zum Handeln haben sie ohnehin. Bis Mitte August müssen sie "Fünfte Novelle zum Arzneimittelgesetz" umsetzen. Diese verpflichtet die Länder, für die vielen verschiedenen Ethik-Kommissionen eine rechtlich verbindliche Grundlage zu schaffen.

    Für das Prüfen von Medikamenten wird künftig nicht nur eine Beratung, sondern eine "zustimmende Bewertung" vorausgesetzt. Zwar fordert das Gesetz dies nur für Arzneimittel. Doch Juristen, wie der bekannte Göttinger Professor Erwin Deutsch, meinen, "die Länder wären gut beraten", wenn sie künftig für alle biomedizinischen Versuche am Menschen die Zustimmung dieser neuen Kommissionen verlangten. Wer den Ethik-Gremien angehört, wem sie verantwortlich sind - das liegt im Ermessen der Parlamente. Im Stadtstaat Hamburg liegen dazu die ersten Vorschläge auf dem Tisch:. Sozialsenatorin Helgrit Fischer-Menzel (SPD) und die Grün-Alternative Liste (GAL) haben jeweils eigene Gesetzentwürfe vorgelegt.

    Beide sehen vor, medizinische Laien in die Arbeit der Kommissionen einzubeziehen. Während die Senatorin dabei eine knappe Mehrheit der Ärzteschaft festschreiben will, überwiegt im GAL-Entwurf die Zahl er Nichtmediziner: Sechs "Laien" - Vertreter von Patienteninitiativen, Sozialarbeiter, Juristen, Seelsorger - stehen zwei Ärzten gegenüber, eine Krankenschwester oder ein Pfleger komplettierten die Ethik-Runde. Das Gremium soll die Öffentlichkeit beteiligen, sobald es um "allgemeine ethische Fragestellungen" geht, die über den Einzelfall hinausgehen - gemeint sind Techniken wie Gentherapie oder Organtransplantationen.

    Ob auch andere Länder Alternativen zur "Geheimbündelei" anstreben, bleibt abzuwarten. Eine öffentliche Diskussion in Sachen "Forschung am Menschen" jedenfalls ist längst überfällig.


© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 1995
                Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors
Zum Seitenanfang
Zur Artikelauswahl
Start