SOZIALE MEDIZIN Nr. 1/2002
Das kritische Magazin im Gesundheits- und Sozialwesen (Basel)

 Anderen Menschen nützen
Wieder auf der politischen Agenda: Forschung mit Menschen, die nicht einwilligen können


Von Klaus-Peter Görlitzer
Die biopolitische Debatte konzentriert sich seit Monaten auf die Frage, ob Forschung an menschlichen Embryonen und embryonalen Stammzellen erlaubt werden soll oder nicht. Dabei droht aus dem Blick zu geraten, dass Wissenschaft, Pharmaindustrie und Politik immer noch hartnäckig dabei sind, ein Ziel durchzusetzen, das zumindest in Deutschland lange tabu war: die Legalisierung fremdnütziger medizinischer Forschung mit Alzheimer- und KomapatientInnen, mit psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, mit Kindern und Strafgefangenen.

Selten hat ein völkerrechtlicher Vertrag so viel Aufsehen erregt wie die Bioethik-Konvention des Europarates. Seit 1994 ein erster Entwurf bekannt wurde, haben in Deutschland zigtausende Menschen in Initiativen und Sozialverbänden aktiv und kontinuierlich Widerstand geleistet und über drei Millionen Unterschriften gegen das Übereinkommen gesammelt, vor allem, weil es fremdnützige Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Menschen billigt. 10 von 43 Europarat-Staaten haben die Konvention, die in "Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin" umbenannt wurde, in Kraft gesetzt, darunter Dänemark, Griechenland, Portugal und Spanien. Die Schweiz hat den Vertrag zwar 1999 gezeichnet, bislang aber nicht ratifiziert. In Deutschland war der Widerstand besonders hartnäckig und erfolgreich: Weder die CDU-CSU-FDP-Regierung noch Rot-Grün trauten sich, die Konvention zu zeichnen und das Ratifikationsverfahren im Bundestag in Gang zu setzen.

    Trotzdem ist Wachsamkeit dringend notwendig. Zum einen kann die Konvention jederzeit wieder auf die politische Agenda kommen. Zum anderen wird derzeit an "Zusatzprotokollen" gearbeitet, die das Übereinkommen ergänzen sollen. Ein deutscher Gesandter im Bioethik-Lenkungsausschuss des Europarates ist Professor Elmar Doppelfeld von der Bundesärztekammer, und der hat nun den Entwurf eines "Zusatzprotokolls über biomedizinische Forschung" mitzuverantworten. Das Papier, inzwischen auch auf der Homepage des Bundesjustizministeriums zu lesen, ist brisant und widerspricht der deutschen Rechtslage gleich mehrfach; in einigen Punkten verschärft es die Bioethik-Konvention sogar noch.

    An Forschungsvorhaben, die den TeilnehmerInnen nicht unmittelbar nützen, sollen laut Protokollentwurf in Ausnahmefällen auch Menschen mitwirken, die persönlich nicht rechtswirksam einwilligen können, beispielsweise bewusstlose und demenzkranke PatientInnen, geistig Behinderte und Kinder. Stellvertretend für den Betroffenen soll ein gesetzlicher Vertreter oder eine Behörde die Genehmigung erteilen dürfen. Die zentrale Voraussetzung basiert auf einer denkwürdigen Konstruktion von Solidarität: Nichteinwilligungsfähige sollen für solche Studien zur Verfügung stehen, die, so die vage Formulierung, zu einer Wissenserweiterung beitragen, die irgendwann Menschen nützen könnte, "welche derselben Altersgruppe angehören oder an derselben Krankheit oder Störung leiden oder sich in demselben Zustand befinden" wie die VersuchsteilnehmerInnen.

Versuche mit Gefangenen
    Klar ist, dass das Protokoll bezweckt, demenzkranke, bewusstlose, geistig behinderte und minderjährige Versuchspersonen zur Entwicklung und Überprüfung neuer Diagnostika, Medikamente und Impfstoffe zu rekrutieren, auch das Etablieren genetischer Tests mittels Auswertung von Blut- und Gewebeproben soll erleichtert werden. Um welche Forschungen es außerdem geht, lässt sich aus dem schwammig formulierten Text nicht eindeutig herauslesen. Das gilt auch für Risiken, die den Testpersonen zugemutet werden sollen. Der Protokollentwurf erlaubt "ein minimales Risiko" und "eine minimale Belastung", definiert diese Begriffe aber nicht. Damit steht die Auslegung letztlich im Ermessen der ForscherInnen beziehungsweise der Ethikkommissionen und Behörden, die geplante Forschungsprojekte begutachten. Einige Beispiele für vermeintlich harmlose Eingriffe benennt der "Erläuternde Bericht" zum Protokoll, der allerdings rechtlich nicht verbindlich ist: Röntgenaufnahmen, Computertomographien, Magnetresonanztomographie, Entnehmen von Gewebe-, Blut-, Speichel- oder Urinproben oder Abstrichen, Erheben von Daten durch Befragen, Beobachten, Messen, Wiegen.

    Das geplante Protokoll enthält weitere brisante Freibriefe. Artikel 22 erlaubt fremdnützige Forschung in Ausnahmefällen auch mit "Personen, denen die Freiheit entzogen ist". Vorausgesetzt wird, dass die Ergebnisse für die Gesundheit anderer Internierter von Nutzen sein sollen. Diese Regelung, die offensichtlich auf Strafgefangene und psychisch kranke Menschen zielt, widerspricht der deutschen Rechtslage. Der "Erläuternde Bericht" deutet an, dass Menschen in geschlossenen Einrichtungen besonders für Studien interessant sein könnten, bei denen auch Scheinmedikamente (Plazebos) eingesetzt werden – Strafgefangene als Versuchskontrollgruppe sozusagen.

Klagen der Pharmaindustrie
    Schließlich haben sich Doppelfeld und Kollegen auch eine Regelung ausgedacht, die festlegt, unter welchen Bedingungen Forschung während Schwangerschaft oder Stillzeit zulässig sein soll, ohne dass die Eingriffe der Gesundheit von (werdender) Mutter, Leibesfrucht oder Kind nützen. "Die Forschung hat zum Ziel", heißt es in Artikel 23 des geplanten Zusatzprotokolls, "durch eine wesentliche Erweiterung des wissenschaftlichen Verständnisses letztlich zu Ergebnissen beizutragen, die anderen Embryos, Föten, Kindern oder Frauen nützen können und Forschung von vergleichbarer Wirksamkeit kann an Frauen, die nicht schwanger sind oder stillen, nicht vorgenommen werden." Mit dieser Formulierung kann nun wirklich jedes Projekt, das Gynäkologen oder Reproduktionsmediziner für notwendig halten, gerechtfertigt werden, die einzige ernsthafte Hürde ist die Einwilligung der betroffenen Frau, die in jedem Fall verlangt wird.

    Ob und wann dieses Zusatzprotokoll zur Bioethik-Konvention tatsächlich beschlossen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Zur Zeit haben die Regierungen der Europarat-Staaten Gelegenheit, Änderungsvorschläge einzureichen. Im Juni 2002 soll dann der Lenkungsausschuss für Bioethik (CDBI) das Papier prüfen; gibt er grünes Licht, wird anschließend die Parlamentarische Versammlung des Europarates den Text beraten, bevor schließlich das Ministerkomitee entscheidet. In Kraft setzen können das Protokoll dann nur solche Staaten, die auch die Bioethik-Konvention unterzeichnet oder ratifiziert haben.

    Vor diesem Hintergrund ist damit zu rechnen, dass PolitikerInnen und Interessenvertreter aus Forschung, Ärzteschaft und Pharmaindustrie im Jahr 2002 eine neue Kampagne pro "Forschung an Nichteinwilligungsfähigen" initiieren werden. Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) beklagt seit Jahren die deutsche Rechtslage, die Arzneimittelstudien angeblich erschwere. Neue Medikamente und Behandlungsmöglichkeiten für Kinder, Alzheimerkranke und SchlaganfallpatientInnen sind nach Darstellung des VFA nur mit Hilfe fremdnütziger Forschung zu haben. Zudem findet der VFA die Begutachtungen durch Ethikkommissionen, die vor Beginn von Arzneimittelversuchen stattfinden müssen, "zu komplex und zu langwierig" – eine erstaunliche Behauptung, denn mit der im Sommer 1998 vom Bundestag beschlossenen achten Novelle des Arzneimittelgesetzes war das Parlament den Geschäftsinteressen der Pharmabranche mehr entgegen gekommen als den Schutzinteressen der ProbandInnen. Die Reform legt fest, dass vor multizentrischen Studien, die an mehreren Kliniken gleichzeitig stattfinden, nicht alle dort ansässigen Ethikkommissionen konsultiert werden müssen. Vielmehr reicht jetzt ein einziges, zustimmendes Votum derjenigen Ethikkommission, die für den Leiter der klinischen Prüfung zuständig ist.

Brisante Weltärztebund-Deklaration
    Einen bedeutenden Beitrag zur schleichenden Aufweichung von Probandenschutz und Instrumentalisierungverbot hat auch der Weltärztebund geleistet. Im Oktober 2000 verabschiedete er eine neue Version der "Deklaration von Helsinki", die als wichtigstes Dokument ärztlichen Standesdenkens zur Forschung am Menschen gilt. Weil sich Parlamente und Gerichte in aller Welt beim Formulieren und Auslegen von Gesetzen auf diese Deklaration beziehen, ist sie auch politisch gewichtig. Die neue Fassung erklärt nun nichttherapeutische Forschung mit einwilligungsunfähigen Versuchspersonen für zulässig. Dass der Weltärztebund bei seiner Reform wohl kaum das Wohl der ProbandInnen im Blick gehabt hat, dafür spricht auch eine zweite Neuregelung: Einwilligungsunfähige PatientInnen sollen von individuellen Heilversuchen und klinisch-therapeutischen Versuchen ausgeschlossen werden, selbst wenn die begründete Hoffnung besteht, dass durch den Versuch das Leben der PatientInnen gerettet, ihre Gesundheit wieder hergestellt oder ihr Leiden verringert wird.

    Mitglied des Weltärztebundes ist auch die deutsche Bundesärztekammer. Sie hat der Neufassung der Helsinki-Deklaration zugestimmt.


© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 2002
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