werden übersehen Ein neues Arzneimittel darf erst auf den Markt kommen, nachdem es in klinischen Studien an mehreren tausend Menschen erfolgreich getestet worden ist. Die Versuche, in der Regel von Pharmaherstellern veranlasst und finanziert, sollen nicht nur die Wirksamkeit eines Präparats belegen und die richtige Dosierung ermitteln; geprüft und dokumentiert werden muss auch, welche unerwünschten Nebenwirkungen auftreten können. Von Klaus-Peter Görlitzer Das
Erfassen von Komplikationen scheinen
viele klinische Prüfer allerdings nicht so genau zu nehmen –
diesen
Eindruck legt jedenfalls eine Auswertung zahlreicher Studien nahe,
vorgenommen vom Klinischen Psychologen und Psychotherapeuten Winfried
Rief. "Ausgangspunkt unserer Überlegungen", erläutert der Marburger Professor, "war die Tatsache, dass bei 20 bis 25 Prozent aller zugelassenen Medikamente noch nach der Zulassung das Wirkprofil verändert werden muss, weil plötzlich bislang unbekannte Nebenwirkungen auftreten – dann also, wenn alle klinischen Studien bereits abgeschlossen sind!"
Anschließend überprüfte ein Forscherteam um Rief, wie
in über
vierzig klinischen Studien zu Statinen (Cholesterinsenker) –
Medikamenten zur Vorbeugung von Herzinfarkt oder Hirnschlag –
Nebenwirkungen dokumentiert wurden. Aus methodischen Gründen
berücksichtigten die Wissenschaftler nur die Daten zu denjenigen
Versuchspersonen, die ein Scheinmedikament (Placebo) eingenommen
hatten. Bei der
Analyse kam heraus, dass die Zahl der registrierten
Nebenwirkungen von Studie zu Studie stark variieren. Professor Rief:
"Beispielsweise wurde bei einer Studie in zwölf Prozent der
Fälle von
Bauchschmerzen berichtet, bei einer Vergleichsstudie nur in einem
Prozent, obwohl beide Male Placebos verabreicht wurden." Solche
Differenzen seien, wissenschaftlich gesehen, "völlig
unverständlich".
Außerdem stellten die Forscher fest, dass Alltagsbeschwerden wie
Kopf-, Bauch oder Rückschmerzen in manchen Studien wesentlich
seltener
berichtet wurden, als angesichts ihrer "Grundwahrscheinlichkeit" in der
Bevölkerung hätte vermutet werden müssen.
Verblüffend auch:
Studienärzte und Patienten führten zahlreiche Nebenwirkungen
selbst
dann auf das Testpräparat zurück, wenn der Betroffene nur ein
Placebo
bekommen hatte. "Die Gründe für solche verwirrenden Befunde
sind
vielfältig", sagt Rief. Häufig würden Studienpläne
so ausgerichtet,
dass "für den therapeutischen Zweck ein sehr gutes Maßband,
für die
Nebenwirkungen aber nur ein grobes Raster" angelegt werde. Derartige Prioritäten setzen manche Prüfer offenbar bewusst: Zunächst werde abgeschätzt, bei wie vielen Patienten eine positive Wirkung zu erwarten sei. Anschließend dimensioniere der Studienleiter die Zahl der Probanden gerade so, dass die angestrebte Hauptwirkung des zu testenden Medikaments noch sicher nachgewiesen werden könne. "Die Nebenwirkungen aber treten mit einer viel geringeren Wahrscheinlichkeit als die Hauptwirkung auf", weiß Professor Rief. Wer Komplikationen sicher erkennen wolle, müsse die Stichprobe vergrößern, also mehr Probanden einbeziehen.
Studienärzte und Patienten seien häufig nicht in der Lage,
die
Ursache von Beschwerden richtig zu beurteilen: "Oft werden sie dem
Medikament zugeordnet, obwohl sie zum Beispiel nur das Ergebnis
übermäßigen Kaffeekonsums sind." Andererseits werden
laut Rief sogar
riskante Nebenwirkungen schlicht übersehen: "Bei muskulärer
Schwäche
etwa, die für den Patienten bei Einnahme von Statinen sehr
gefährlich werden kann, sollte man davon ausgehen Professor
Rief fordert, Nebenwirkungen in klinischen Prüfungen
künftig systematisch zu messen und zu dokumentieren. Dabei
müssten auch
Daten von Studienabbrechern in das Endergebnis einbezogen werden, was
bislang oft versäumt werde. Außerdem hält es der
Marburger Psychologe
für notwendig, die "Grundwahrscheinlichkeit" von
Alltagsbeschwerden
stärker bei den Auswertungen zu berücksichtigen. © KLAUS-PETER GÖRLITZER, 2006 Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors |
die tageszeitung 24. Februar 2006
Künftig
noch mehr Arzneimitteltests
Medikamente sollen in Europa künftig routinemäßig auch an Kindern und Jugendlichen getestet werden. Den Weg für fremdnützige Studien in Deutschland hatte der Bundestag im Sommer 2004 gebahnt. |