Auf der "Multicard '94" in Berlin legten sich Fachleute für eine umfassende Kontrolle der Bürger durch Chipkarten ins Zeug - Elektronisches System von Belohnung und Bestrafung soll zu ökologischem Wohlverhalten führen Von Klaus-Peter Görlitzer Mehr als hundert Millionen Telefonkarten wurden 1993 in Deutschland verkauft – das bargeldlose Ferngespräch, so scheint es, ist für viele schon selbstverständlich geworden. Bald werden wir uns an ein weiteres Plastikkärtchen gewöhnen müssen. Dem "Gesundheitsstrukturgesetz" zufolge sollen alle Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung, das sind 73 Millionen Menschen, dieses Jahr als Ersatz für den herkömmlichen Krankenschein eine maschinenlesbare Speicher-Chipkarte erhalten. Kein Wunder, daß bei solcher staatlichen Schützenhilfe mitten in der Rezession ein Geschäft boomt: Der weltweite Umsatz mit den "Chips", die in den Plastikkarten stecken, soll sich bis 1998 auf dann 1,3 Milliarden Mark versechsfachen – und Europa soll mit 65 Prozent Marktanteil die Nase vorn haben. Das hofft jedenfalls der Siemens-Konzern, der sich von diesem Kuchen ein gehöriges Stück abschneiden möchte. Die Verwendungsmöglichkeiten von Chipkarten, schwärmen ihre Entwickler, sind vielfältig, der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Die Stichworte lauten "elektronische Geldbörse", "Mautkarte" als Straßenbenutzungsausweis, "elektronische Fahrkarte" für Busse und Bahnen, "Patientenkarte"mit gespeicherter Krankengeschichte. Doch manche Protagonisten aus Forschung und Industrie wollen noch weitaus mehr. Auf Kongressen und in Fachpublikationen propagieren sie eine andere, eine "optimierte" Gesellschaft. Der Schlüssel dazu soll eine besonders leistungsfähige Chipkarte, die sogenannte "Smart-Card", sein – ein mit einem Mikroprozessor ausgestatteter Mini-Computer, der große Datenmengen speichern und verarbeiten kann. Die Visionen eines
geschäftstüchtigen
Herrn aus Hamburg Während die Datenschutzbeauftragten zehn Jahre nach dem "Orwell-Jahr" 1984 davor warnen, Chipkarten führten womöglich zu "gläsernen Patienten" oder "gläsernen Autofahrern", Gesundheits- oder Mobilitätsverhalten könnten lückenlos nachvollziehbar werden, entwirft Dethloff ein leuchtendes Bild der kommenden Chipkarten-Gesellschaft: "Zunächst entwerfen wir Organisations-Strukturen für die Lenkung gesellschaftlichen Wohlverhaltens, also die Optimierung des Tuns und Lassens des bürgerlichen Individuums." Dann, so Dethloff weiter, werde uns die Smart- oder Chipkarte "helfen" bei der "gerechten Verteilung von Gütern und Leistungen" ebenso wie bei dem Bemühen, "unsere gesellschaftlich erwünschten oder erforderlichen Verhaltensweisen zu beeinflussen". Wie, bitte, soll das praktisch aussehen? Der Verbrauch von Heizöl, Gas und
Benzin
wird einfach abgebucht Daß sich dieses Prinzip problemlos auf weitere Bereiche übertragen ließen, zeigte der Volkswirt Peter Georgieff (Karlsruhe) vom Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung: "In Verbindung mit der Vergabe eines Gesundheits-Bonus, zum Beispiel bei regelmäßiger Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen", könnten Patientenchipkarten künftig zur "Honorierung eines gesunden Lebensstils" dienen. Chipkarten-Erfinder Jürgen Dethloff erntete in Berlin viel Beifall – zumal er betonte, angesichts immer knapper werdender Ressourcen sei ein "Management" derselben dringend erforderlich. Entscheidende Fragen klammerte er jedoch aus: Wer eigentlich legt die Rationen fest, die es zu verteilen gibt? Wer die Standards, nach denen Menschen sich verhalten sollen? Was passiert, wenn jemand vom Durchschnitt abweicht und sein Kontingent vorzeitig verbraucht? Bezeichnenderweise waren diejenigen, die mit den neuen Karten und dem sozial-ökologisch begründeten Ressourcen-Management beglückt werden sollen – unabhängige Bürger, Verbraucher- oder Umweltgruppen – in Berlin nicht vertreten: Wer gut 2.000 Mark Tagungsgebühr aufbringen muß, denkt lieber über neue Anwendungsfelder nach – statt zu fragen, ob Chipkarten überhaupt sinnvoll, notwendig und für das Indivduum verträglich sind. Datenschützer forden, Chipkarten mit persönlichen Gesundheitsdaten, wie sie Ärzteverbände und Krankenkassen ins Gespräch gebracht haben, nur auf freiwilliger Basis zuzulassen. Maut- oder Wertkarten sollten wie Telefonkarten funktionieren, also grundsätzlich keine persönlichen Daten speichern dürfen. Jan Kuhlmann, Jurist beim Studiengang Informatik an der Universität Bremen, geht noch einen Schritt weiter: Ausschließlich vor dem "gläsernen Bürger" zu warnen, greife angesichts der umfassenden Verdatungspläne zu kurz. Das trügerische Gefühl von
Sicherheit
im genormten Glück Es gibt Alternativen zu den Phantasien von der elektronisch gesteuerten Öko-Rationierung. Ob autofreie Innenstädte, Verbot von Einwegverpackungen oder Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel – die Vorschläge für einen schonenden Umgang mit den natürlichen "Ressourcen" sind längst bekannt. Und sie lassen sich praktisch umsetzen. Sofort und ohne Chipkarten. © KLAUS-PETER GÖRLITZER, 1994 Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors |
Kölner Stadt-Anzeiger 19. März 1994
"Gesundheits"-Chipkarte
Die rot-grüne Bundesregierung will die Vision von der tragbaren Krankengeschichte ab 2006 wahr werden lassen. Auf der geplanten "Gesundheitskarte" sollen alle relevanten PatientInnendaten gespeichert werden können. Ein Modellversuch wurde 2002 in Flensburg gestartet. Ausführliche Informationen über Risiken und Nebenwirkungen der elektronischen Gesundheitskarte stehen hier |